Die ersten Küsse

Humoreske von Teo von Torn
in: „Leipziger Tageblatt” vom 15.06.1903,
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 18.06.1903,
in: „Montags-Revue aus Böhmen” vom 23.11.1903


Der Referendar Erwin Vollborn hatte die mannigfachen Gründe, aus denen die Menschen sonst Badeorte aufzusuchen pflegen, um einen neuen vermehrt:er wollte arbeiten.

Das klingt merkwürdig — für einen Badeort ebenso, wie für einen Referendar. Aber es war so. Erwin Vollborn hatte im Staatsexamen bereits einmal negativ abgeschnitten, und da er ein eigensinniger Mensch war, sagte er: „Nun grade!” Gleich nach Beginn der Gerichtsferien reiste er mit dreißig Kilo Büchern und noch gewichtigeren ehernen Vorsätzen in ein weltentlegenes Ostseebad. Daß er dort von vornherein zwei Enttäuschungen erlebte, muß erwähnt werden, da das zu unserer Geschichte gehört.

Die erste war, daß er gleich auf dem Dampfersteg seinen Universitätsfreund Semmler traf. Nicht daß er gegen den blonden Theologen an sich was hatte. Keineswegs. der Kandidat Paulus Semmler war ein lieber Kerl, ein Gemütsmensch, aus dessen immer etwas erschrocken blickenden kobaltblauen Augen eine treue, pflaumenweiche Seele sprach. Aber auch die besten Menschen sind einem zu Zeiten ungelegen. Wenn man mit dreißig Kilo Jura und ehernen Vorsätzen einen weltentlegenen Badeort aufsucht, dann hat auch die liebevolle Anhänglichkeit eines alten Freundes etwas Störendes.

Die zweite Enttäuschung bezog sich auf den Ort selbst. Erwin Vollborn hatte ihn ausgewählt, weil er einmal gehört, daß da nervöse Menschen in der Hochsaison von Platzangst befallen werden und sogar die Sperlinge unter Anfällen paralytischer Melancholie von den Dächern stürzen.

Das erwies sich als unzutreffend. Wo noch vor zwei Jahren in der jungfräulichen See teerduftende Flunderkähne ankerten, winkte ein Park von neuen Badekarren; an Stelle der idyllischen Strandkneipe, wo es dereinst unheimlich große Portionen grünen Aal zu lächerlich kleinen Preisen gegeben, stand heute ein „Kurhaus” — und es gab lächerlich kleine Portionen zu unheimlich großen Preisen. So verändert sich unser Planet auch in seinen verstecktesten Winkeln, und Erwin Vollborn hatte nicht übel Lust, gleich wieder umzukehren. Aber man hatte ihn schon. Eine strebsame Badeverwaltung duldet es nicht, daß der Gast sich mit Grausen wendet. Ehe dieser sich auch nur umgedreht, ist ihm die Kurtaxe, die Musiktaxe, die Badetaxe, die Vergnügungstaxe, die allgemeine Strandtaxe, sowie die spezielle Karrentaxe und die Korbtaxe abgeknöpft. Will er dann noch abreisen, so ist das Sache seine ökonomischen Empfindens.

Der Referendar Vollborn konnte nicht, wenn er gewollt hätte; Paulus Semmler hing an ihm und gab ihn nicht frei. Er hatte ihn solange mit guten Worten, Versprechungen und dem erschrocken liebevollen Blick seiner kobaltblauen Augen beschworen, bis der Ankömmling die dreißig Kilo schließlich auspackte, gleicnzeitig aber seine ehernen Vorsätze wie folgt zum Ausdruck brachte:

„Also schön, Paule — ich werde bleiben. Vernimm jedoch, was ich dir zu sagen habe: Ich will arbeiten. Ernsthaft arbeiten. Du hast beim Examen auf den ersten Hieb bestanden. Ich nicht. Wenn ich wieder durchfalle, dann muß ich Bürgermeister werden. Vielleicht gar hier. Und das überlebe ich nicht. Also du wirst mich arbeiten lassen?”

„Ich werde, Erwin.”

„Du wirst mir nicht ewig am Frack baumeln?”

„Ich werde nicht, Erwin.”

„Du wirst — obwohl dein Zimmer hier auf demselben Flur liegt — immer nur kommen, wenn ich dich rufe?”

„Ich werde, Erwin.”

„Nun wohl, so erhebe die rechte Hand und sprich mir nach: Ich, Paulus Semmler, schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden — — — ach so, pardon — du bist ein geistlicher Herr. Na, schließlich genügt mir auch eine eidesstattliche Versicherung, die ich dir hiermit abnehme, indem ich dich gleichzeitig auf die Folgen aus §156 des Reichsstrafgesetzbuches aufmerksam mache. Gefängnis bis zu drei Jahren; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Du bist gewarnt. Jetzt erzähle mir in aller Kürze, wie es dir geht: Und vor allem — was macht deine Braut?”

„Meine Braut — —”, das klang wie ein herzbrechender Seufzer.

„Um Gotteswillen,” stutzte der Referendar beim Anblick des blonden Unglücksgesichtes, „sie ist doch nicht etwa tot?”

„Nein — sie ist hier. Fräulein Hedwig Warning meinst du — nicht wahr?”

„Na, wen denn sonst, zum Donnerwetter nochmal! Einen so zu erschrecken! Seit wann haben denn die Theologen mehrere Brautens? Oder ist die Geschichte etwa zu Ende?”

„Das nicht, Erwin; sie — sie hat noch gar nicht angefangen.”

Einen Augenblick starrte der Referendar sein Gegenüber verständnislos an. Dann schien etwas Unfaßbares in ihm aufzudämmern. Er zog seinen Stuhl näher heran und inquirierte:

„Sprich nicht in Charaden, mein Sohn. Erkläre mir mit der Offenheit, wie sie sich für einen Freund und angehenden Gottesmann geziemt, was los ist. Verliebt bist du seit — warte mal, wie lange ist das her, ja, seit sechs Jahren. Verloben wolltest du dich schon vor drei Jahren. Dann hast du es aufgeschoben, bis du dein Examen gemacht hast; und das hatte was für sich. Ein solider Mensch bist du immer gewesen. Im vorigen Jahre schon hattest du das Examen hinter dir. Ich traf dich unglücklicherweise damals in Berlin. Wochenlang hast du mir von deiner Liebe, von deinen Zukunftsplänen vorgeklönt, und wochenlang habe ich dir zugeredet wie einem kranken Pferde, nun endlich Ernst zu machen. Ich habe dir klar gemacht, daß du das dir selbst, dem Mädchen und auch mir schuldig seiest, der ich dein Geschwafel nicht mehr mit anhören konnte. Als ich abreiste, hast du mir in die Hand versprochen, dich noch am nächsten Tage zu verloben. Weshalb bist du nicht verlobt, Paulus Semmler?”

„Erwin — ich konnte nicht,” hauchte der Kandidat, indem er die Kobaltblauen auf die krampfhaft gefalteten Hände senkte. „Täglich wollte ich es tun und will ich es tun — aber — — man kann doch so etwas nicht übers Knie brechen. Und dann — es ist nicht leicht, einem jungen Mädchen so ohne weiteres eine Liebeserklärung zu machen — —”

„Mensch!!” schrie der Referendar. „Du hast dich ihr noch nicht einmal erklärt!!?”

„Nein — ich habe es noch nicht herausgebracht, Erwin. Aber heute ist ein Sommernacht-Kostümfest, da soll es geschehen. Unter der Maske werde ich Mut haben — ganz gewiß!”

Es entstand eine Pause, wie sie immer entsteht, wenn zwei Menschen zusammensitzen, von denen der eine tödlich verlegen ist, der andere in würgender Sprachlosigkeit nach Luft ringt. Endlich hatte Erwin Vollborn genügend Atem, um sich also vernehmen zu lassen:

„Ich reise ab! Ich reise unbedingt ab! Keine Stunde bleibe ich länger hier! Wenn mir die Räuberbande nur nicht schon die sechszehn Taxen abgenommen hätte! Aber gleichviel — wenn du nicht morgen früh als verlobter Bräutigam an den Kaffeetisch kommst, reise ich ab! Ich lasse mich nicht morden durch dein Liebesgesäusel, Feigling, elendiger! Mir ist noch ganz übel vom vorigen Jahre. Und das soll ich jetzt wieder die ganzen Wochen mit durchmachen? Mit nichten! Du hast mein letztes Wort und jetzt verkrümele dich — sonst weiß ich nicht, was noch geschieht.”

*           *           *

Eine herrliche Sommernacht. Erwin Vollborn hatte die dringliche Einladung, an dem Kostümfeste teilzunehmen, entschieden abgelehnt — einmal aus Prinzip, da es einer der wesentlichsten seiner ehernen Vorsätze war, von allem Klimbim des Badelebens sich fernzuhalten, und dann auch, weil er sich abgespannt fühlte. Die Dampferreise hatte ihn mitgenommen und — sein Freund Semmler. Der war ihm bis vor anderthalb Stunden noch auf die Nerven gefallen. Jetzt war er weg. Vom Kurhaus her drangen die abgebrochenen Klänge der Musik durch das Fenster. Erwin Vollborn begann, beruhigten Gemütes, sich zu entkleiden.

Er hatte aber kaum das Jackett abgelegt, als seine Tür sich zaghaft öffnete.

„Verzeih, Erwin — was ich noch sagen wollte — — ich habe mir eben überlegt: Es ist doch wohl nicht recht, unter dem Schutze der Maskenfreiheit, einem jungen Mädchen eine Liebeserklärung zu machen — —”

„Rrrrraus —!!” heulte der Referendar, indem er nach einem schweren Gegenstande suchte.

„Nein, Erwin. Du mußt mich noch einmal anhören. Die Sache ist doch so furchtbar wichtig,” wandte der Kandidat ein, indem er sich ins Zimmer schob und dem Tobenden dabei offenbarte, daß er noch nicht einmal den kanariengelben Domino angelegt hatte. „Du mußt nämlich wissen, daß Hedwig meine Maske kennt — und da ist es doch eigentlich genau so, als wenn man sich wie immer gegenüberstände. Und wie ich mich kenne, bringe ich es dann nicht heraus. Es ist doch sehr schwer, Erwin — —”

Das Letzte ging in einem erstickten Schrei verloren. Paulus Semmler fühlte sich auf einen Pfühl geschleudert — und eine Menge Bettzeug türmte sich über ihm auf. Als er sich unter Zappeln und Stöhnen von der Last befreit und mit den Kobaltblauen um sich blickte, sah er das Zimmer leer. Erwin Vollborn war fort und — die Tür verschlossen.

Aus dem Kurgarten drangen die abgebrochenen Klänge der Musik durch die offenen Fenster — —

Erst nach einer halben Stunde, in der sich die pflaumenweiche Seele des Kandidaten schon in herber Erbitterung gegen den arglistigen Freund zu verhärten begann, wurde er erlöst. Wortlos ging er an dem Triumphierenden vorbei auf sein Zimmer, hüllte sich in den merkwürdig zerknitterten Domino und ging in den Garten.

Er hatte den mit wildem Wein überwachsenen dunklen Laubengang, welcher von der Rückseite in den Kurpark führte, noch nicht verlassen, als eine reizende Watteausche Schäferin ihm entgegentrat und ihre weichen Arme glatt um seinen Hals legte.

„Wohin bist du denn so plötzlich verschwunden?” flüsterte die zärtliche Stimme Hedwig Warnings an seinem Ohr. „Ich habe die Eltern von unserem Glücke verständigt und soll dich zu ihnen führen. Vorher aber küsse mich noch einmal, Paul — wie du mich vorhin geküßt hast! Eigentlich müßte ich dir ja zürnen wegen des wortlosen Ueberfalles, du Böser. Aber es war so wundervoll — und ich habe dich so lieb — so lieb — — —”

*           *           *

Am andern Morgen reiste Erwin Vollborn nicht ab. Er folgte vielmehr einer Einladung der hofrätlich Warningschen Herrschaften zum Frühstück. Als er die Veranda des Gartenhauses betrat, fand er zunächst nur das Brautpaar vor, das bereits frühstückte — wie so junge Brautleute zu frühstücken pflegen.

Der Referendar tat, als wenn er nichts gesehen habe. Auch das seltsame Gemenge von Zorn und Vergeben, welches die Kobaltblauen des Kandidaten Paulus Semmler widerspiegelten, beachtete er nicht.

„Lassen Sie sich nicht stören, meine Herrschaften,” sagte er freundlich, — „die ersten Küsse sind immer die schönsten.”

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